F.J. Bogner
über sich
und
über Fabeln






In meinem ersten Lesebuch standen Fabeln en bloc. Beeindruckend war vor allem die von Wolf und Lamm, eindrücklich vermittelt von Pädagogen und Theologen.

Es muß aber etwas falsch gelaufen sein bei der Vermittlung des Lehrstoffes, der Moralwerte: sollten Fabeln doch nicht zur persönlichen Auseinandersetzung dienen, sondern zur unreflektierten Übernahme von Werturteilen: Lamm gut, Wolf schlimm, Esel – Esel.

1942 stand nicht Zufälliges in den Lesebüchern, wie zu allen Zeiten nicht Zufälliges in den Lesebüchern steht. Wandeln sich die Zeiten, wandeln sich die Lesebücher.

Uns – wie anderen vor und nach uns – hatte man beibringen wollen, daß „DER WOLF ein schlimmes Tier ist“. Schlimmer, gefährlicher, reißender, raubender Wolf. Es war klar, daß es nicht um Tiere ging, sondern um Menschen: ein böser Wolf = ein böser Mensch.

Und der gute Mensch ein frommes LAMM. Nachahmenswertes, liebes, sanftes, frommes, blondes, lockiges, unschuldiges Lamm. Nicht mit Wölfen heulen, mit Lämmern sollten wir blöken. Uns mit Lämmern und Schafen identifizieren, die den Hirten, guten Hirten und nichtguten Hirten, folgten. Blökend, aber nicht nachfragend, nicht widersprechend, folgsam.

Wer NICHT den Hirten folge, das brachten uns Pädagogen, Theologen und Politiker bei, der sei ein dummes, verlorenes Schaf. Womit im Sprachgebrauch schon &Mac226;dumme Schafe’ eingeführt waren.

Für mich war von Beginn das Lamm, das sich neben den Wolf stellt und ihm wieder und wieder Widerspruch gibt, dumm. Zwingt durch Beharrlichkeit den Wolf dazu, es zu fressen, es zu &Mac226;würgen’.

Die gezielte Moralgeschichte sagt nichts davon, daß der Wolf hungrig zum Bach gekommen sei. „Der Durst trieb Wolf und Lamm an den gleichen Bach“. Das Lamm provozierte den Wolf, es zu fressen. Was nicht nötig gewesen wäre, weil es der Schöpfungssinn der Wölfe ist, Lämmer zu fressen – insbesondere kranke, verhaltensgestörte Lämmer, um so auch die Art der Lämmer gesund zu erhalten.

Uns wurde beharrlich vermittelt, daß auszurotten sei, wer unschuldige, blonde, fromme, widersprechende Tiere frißt. Gleichzeitig wurde uns vermittelt, daß es richtig und zwingend sein könne, rächender Wolf zu sein. Wenn die Geschichte, die ZEIT-Geschichte es erfordere. Dann waren dumme Schafe auszurotten. Dann mußte man Werwolf sein – zum Beispiel.

Gut oder Böse, Richtig oder Falsch – Gebrauchswertungen nach Bedarf und Bedürfnis. Der Wolf. Das Lamm. Die Griechen. Die Barbaren. Die Römer. Die Germanen – alle bis hin zu Juden und Deutschen. Die Fabeln.
Fabeln – wirksam über die Jahrtausende. Fabeln – sie förderten nicht das Denk- und Urteilsvermögen, sie verhalfen zum Griff in die Vorurteilskiste.
An tierischem Verhalten sollten sie unmenschliches Verhalten entlarven.
Tierisches Fabel-Verhalten ist untierisch: kein Tier verhält sich so, wie Fabeln zum Moralzweck es benutzen. So traf es nicht die Unmenschen, es traf die Tiere und unser Verhältnis zu ihnen. Die Fabel-Falle.



Zeitgleich widerfuhr mir (uns) die Geschichte vom guten Menschen und vom bösen Menschen: die Geschichte von KAIN und ABEL. Erzählt und gedruckt. Gelesen in der dicken Bibel, die auch 1942 und hernach im normaldeutschen Schulunterricht als pädagogisch theologisch politische Grundlage herhielt.




Zu meiner Zeit reichte das Druckpapier nicht aus, damit jeder Schüler sein dickes Bibel-Exemplar täglich im Ranzen führen konnte. Für je fünf Schüler gab es eine schwere Bibel. Die gaben wir täglich weiter an den nächsten, um unseren eigenen Schulranzen nicht länger als nötig mit der dicken Bibel zu belasten.

Was hatten Kain und Abel mit Wolf und Lamm zu tun? Was hatten die mit uns Kindern in dieser Zeit zu tun?
(Was mit den Zeiten, die vor unserer Zeit die Zeiten zu dem machten, was sie wurden?)

Kain und Abel opferten (ihrem) Gott. Der eine Früchte des Feldes. Der andere – ein Lämmlein. Unschuldiges, frommes Lämmlein. Beides gottgefällig sein sollende Brandopfer. Die Illustration der dicken Bibel zur Kain- und Abel-Story steht mir heute noch vor Augen: Vor den Brandstätten knieten die Opfernden. Über den Brandstätten schwebte ein Gott, der Kains Opferqualm ausschnaubte und Abels Opferqualm tief einschnaubte.

Wer hätte zu meiner Zeit in meinem Land Früchte des Feldes oder Fleisch-Tiere geopfert, verbrannt? Dennoch war das, wie die Story-Vermittelnden in Bedarftheit oder auch Unbedarftheit uns mitteilten, Gott wohlgefällig. Zumindest der Brandgeruch des Lämmleins. Meiner Mutter war zu jener Zeit einmal Fleisch angebrannt. Das ganze Haus stank fürchterlich.

Die Illustration der dicken Bibel zeigte eindrücklich einen guten Menschen und einen bösen Menschen: der gute Mensch Abel hatte blondes Haar. Der böse Mensch Kain schwarzes. Wir bekamen vermittelt, daß nicht böse ist, wer Böses tut. Böse ist, wer böse ausschaut. Und: welch Böses gut sein kann und welches nicht.



Zur gleichen Zeit

stieg mal oft, mal weniger oft aus dem Schornstein einer psychiatrischen Anstalt eines Nachbarortes weithin sichtbar Rauch auf. War der Qualm dunkel und stank, wurde uns so vermittelt, daß eben Menschen verbrannt wurden. Gute Menschen? Böse Menschen? Andere Menschen als wir .....
Schornstein eines Nachbarortes, wie es in der Nachbarschaft vieler Orte ähnliche Nachbarorte gab. Ich war zu jener Zeit acht Jahre. Zu jener Zeit wußte jedes Kind im Umkreis, was geschah. Später gab es viele viele Erwachsene im Umkreis, die glaubhaft bewiesen, daß sie nichts nichts gesehen, nichts gerochen – nichts gewußt hatten.


Zur gleichen Zeit
1942

durfte ich den Leib-des-Herrn empfangen. Nicht alle meine glaubensgleichen Schulkameraden gingen und empfingen mit mir – doch die meisten: wir lebten in einer Bischofsstadt.

Der &Mac226;Schönste Tag’ (oder der &Mac226;erste’ schönste Tag) meines Lebens: der Tag der Ersten-Heiligen-Kommunion. Dieser Tag stürzte mich in lang andauernde Gewissensqualen. Dieser Tag war für mich die angewandte Story vom Wolf und dem Lamm und von Kain und Abel .....



Zwölf Gäste wollten an dem Festmahl meines schönsten Tages teilhaben. Einige, die ihren schönsten Lebenstag schon hinter sich hatten, wollten mit mir den meinigen feiern. Andere kamen einfach nur, die Gelegenheit zu nutzen, mitzufressen:

Mein Vater hatte ein Lämmlein aufgetrieben, ein unschuldiges, blondes, lockiges Osterlämmlein. Weißer-Sonntag-Lämmlein. Gebraten! Nun war mir vermittelt, daß, wer Lämmlein frißt, ein böses Lebewesen, ein Wolf ist. (Gott selbst fraß kein Lämmlein, er labte sich am Brandgestank).

Ich war das frischgeweihte Gotteskind – wegen mir und meiner gab es ein abgestochenes, gebratenes Lamm. Zwölfe beteiligten sich am Fressen: nicht zwölf Apostel – Gläubige und Faschisten.

War ich nun ein schlimmes Tier? Oder ein frommes, gottgefälliges Kind, das seinem Gott zum von ihm verehrten Brandgeruch verhalf?

Einige Pädagogen und die Theologen vermittelten mir, daß ich ein richtig braves, folgsames, gottgeweihtes Lamm sei, das selbst in dieser Zeit den Herrn und seine guten Hirten erfreut.

Andere Pädagogen und die Politiker vermittelten mir, daß in dieser Zeit ich ein unfolgsames, dummes Lamm sei, das dem (wahren) Herrn nicht folgt.
.......

DER WOLF UND DAS LAMM


Der Durst trieb einmal den Wolf und das Lamm an den gleichen Bach. Dcr Wolf trank oben, das Lamm weiter unten.

Da suchte der nimmersatte Räuber einen Grund zum Streit und sprach: „Wie kommst du dazu, mir das Wasser zu trüben?“ – „Das kann doch unmöglich sein!“ entgegnete das unschuldige Lamm. „Das Wasser fließt ja von dir herab zu mir.“

Das konnte der Wolf nicht wohl bestreiten. So brach er einen neuen Streit vom Zaun. „Hast du mich nicht vor einem halben Jahr geschmäht?“ fing er nunmehr an. „Nein“, sprach das Lamm, „denn damals habe ich ja noch gar nicht gelebt.“ – „Dann war‘s dein Vater, der mich schmähte“, rief der Wolf in geheuchelter Entrüstung und würgte sein Opfer ab.

Die Fabel-Falle, die Urteils-Falle, die Vorurteils-Falle hatte mich nicht geschnappt, sie begann mich zu zerreiben. Nachzufragen war nicht in. Nachzudenken nicht gefordert, noch gefördert. Aber ich versuchte mich im Denken. Mitdenken, Nachdenken, Querdenken, Gegendenken. Dann zum Selbstschreiben von Fabeln als Gegenwehr.

Meine ersten Fabelversuche startete ich zwölf Jahre nach der ersten Fabel-Begegnung: ich begann, Fabeln zurechtzurücken, umzukehren, ad absurdum zu führen, ihre Herstellungstechniken offenzulegen in Pro-Anti- und Anti-Fabeln, teils durch beliebigen Austausch behaupteter Charaktereigenschaften. Das war 1954 bis 1956.

1963 gab ich meinen Beamten-auf-Lebenszeit auf und startete meine Theaterlaufbahn. Kritisches, hinterfragendes Zeittheater, mit kabarettistischen, satirischen Mitteln. Auch die eine oder andere meiner Fabeln präsentierte ich in Solo-Programmen.

1967 gab man mir in der Schweiz eine Gelegenheit, alle meine Fabeln vorzutragen. Das waren zu dieser Zeit die &Mac226;mit Titeln’. Nach der Lesung kam eine Verlegerin zu mir und bot mir an, die Fabeln zu veröffentlichen, falls ich neben den Gelesenen noch weitere vorlegen könne. So kam es 1968 zu den Fabeln &Mac226;ohne Titel’.

Doch es kam nicht zur Buchveröffentlichung. Die Verlegerin bedauerte, daß ich nicht weitere Fabeln geschrieben habe, die man als Fabeln im herkömmlichen Sinne mißverstehen könne und deshalb kommerziell nutzbar seien.